Zukunftskongress Demokratie.
Partizipativer Verfassungsprozess in Island.
Silja Bára Ómarsdottier (isländische Verfassungsbeirätin / University of Iceland) schilderte eingangs den einzigartigen Verfassungsgebungsprozess in Island: Zunächst paralysiert vom Zusammenbruch dreier Banken im Oktober 2008 ergriff das isländische Volk rasch die Initiative zugunsten eines Neubeginns. Mit regelmäßigen Protestkundgebungen erwirkten Bürger*innen den Rücktritt der Regierung und des Zentralbank-Gouverneurs.
Die folgende Linksregierung trug der Forderung nach mehr Transparenz und einer neuen Verfassung zunächst Rechnung und setzte eine verfassungsgebende Versammlung ein: 1.000 zufällig ausgewählte Bürger*innen beteiligten sich an moderierten Tisch-Diskussionsrunden. Danach fasste eine Expert*innen-Kommission der Zivilgesellschaft die Vorschläge für den gewählten, 25köpfigen Verfassungsbeirat zu einem Dokument zusammen. Der Verfassungsbeirat erarbeitete dann von April bis Juli 2011 einen konkreten Verfassungsentwurf.
Ómarsdottier betonte die Transparenz des in Arbeitsgruppen organisierten Prozesses: Sobald innerhalb der Gruppe zu einem Thema Konsens bestand, wurde dieses der Öffentlichkeit via Rundfunk und soziale Medien kommuniziert. Diese offene Diskussion erwies sich aufgrund regen Feedbacks als wesentlich. Der Verfassungsausschuss des Parlaments diskutierte den Entwurf zwei Jahre lang, um den Prozess schließlich einzufrieren. 30.000 Unterschriften konnten den Präsidenten allerdings dazu bewegen, gegen den Willen der Regierung ein Gesetz zur Durchführung eines Verfassungsreferendums zu ermöglichen.
Im Oktober 2012 beteiligten sich 50 Prozent der Bevölkerung daran, zwei Drittel sprachen sich für eine neue Verfassung auf Basis des partizipativ erarbeiteten Entwurfs aus. Daraufhin änderten jedoch die Regierungsparteien im Parlament die entsprechende Verfahrensklausel zur Änderung der Verfassung. Dies zeuge davon, dass die Regierung das parlamentarische System dazu benützte, den Wandel zu verhindern, bedauerte Ómarsdottier. Sie wurde aber nicht müde, die Lerneffekte des isländischen Verfassungsprozesses zu unterstreichen: Man wisse nun, dass es möglich sei, einen gesellschaftlichen Konsens mit der Bevölkerung zu erarbeiten. Es sei aber nicht zielführend, zu früh in einem Referendum abzustimmen. Die aktuelle Situation reflektiere vor allem die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager.
Partizipative Demokratie erfordert geänderte Rahmenbedingungen.
Im anschließenden Podiumsgespräch und der Publikumsdiskussion war man sich einig: Partizipative Demokratie ist ein Gebot der Zeit. Nicht zuletzt weil auch die aktuelle Krise die zunehmende Reformunfähigkeit der (Klientel-)Politik offenbart.
Die geschilderten Erfahrungen und Einschätzungen zeugen aber auch von den vielfältigen Herausforderungen, mit denen der gewünschte Wandel einhergeht. So mangelt es derzeit an zentralen Rahmenbedingungen: Vassilakou beklagte, dass aufgrund der Realverfassung Ergebnisse in der Regel schubladisiert werden. Außerdem würden zu strenge Datenschutzbestimmungen häufig den rechtzeitigen Zugang zu Informationen für eine frühe Beteiligung bei geplanten Projekten verhindern. Hier bestätigte sie die Kritik der Bürger*inneninitiativen und ergänzte, dass Informationen verständlich bereit zu stellen seien. Im Vorfeld von Abstimmungen sollten Mindeststandards für eine ausgewogene Kommunikation gelten, sodass – analog zum Schweizer ´Abstimmungsbüchlein´ - alle gesellschaftlichen Interessengruppen ihre Argumente kundtun können.
„Im Kampf um Transparenz in Zeiten des Internets“ sei es die Verantwortung von Medien und Politik, Informationen aufzubereiten und den Wettbewerb der Argumente zu moderieren, so Stainer-Hämmerle.
Herausforderung ´Interesse für repräsentative Beteiligung wecken´.
Als zentrales Problem sah man auch das mitunter ´endenwollende´ Interesse für Partizipation und die häufig mangelnde Repräsentativität: Derzeit beteiligen sich tendenziell eher Gebildete, besser Situierte und Personen in sicheren Jobs (wie etwa pragmatisierte Lehrer*innen) an politischen Entscheidungsprozessen. Dies zu ändern, sei als politisch-inhaltliche Gestaltungsaufgabe wahrzunehmen. Rein faktisch spiele für die erwerbstätige Bevölkerung jedoch Zeitmangel eine Rolle, zumal Partizipation „kein leichter Sport“ sei.
Stainer-Hämmerle verwies auf Versäumnisse in Sachen politische Bildung: Beteiligungskompetenzen müssen bereits früh erworben werden. Dies schließe die Umsetzung partizipativer Ergebnisse ein. Vassilakou zeigte sich vom isländischen Modell des Zufallsgenerators überzeugt, welcher von Anfang an eine ausgewogene Beteiligung sicherstelle. Einschränkend merkte sie dazu an, dass in Österreich nicht von einem hohen Interesse auszugehen sei. Nach zweieinhalb Jahren Erfahrung sei sie davon überzeugt, dass man Menschen nicht mit Partizipation ´zwangsbeglücken´ dürfe: Kontinuierliches Abfragen könne sich zumindest bei Verkehrsprojekten als Bumerang erweisen und als Belästigung und Delegation der politischen Entscheidungsfindung an die Bürger*innen gedeutet werden. Stainer-Hämmerle regte vor diesem Hintergrund an, mit partizipativer Demokratie primär die gemeinsame Suche nach Problemlösungen und Konsens anzustreben. Reflexion und Verhandeln könnten so auch innovative Impulse durch Bürger*innen ermöglichen. Im Idealfall bedürfe es dann nicht mehr der Abstimmung, welche generell die Gefahr der Polarisierung in sich berge. Sie betonte zudem, dass es vor allem für langfristige weitreichende Veränderungen, wie etwa dem Europäischen Integrationsprozess, immer auch der ´Elitenprojekte´ bedürfe.
Erwin Mayer (Mehr Demokratie) hingegen will den Aktionsradius der Bürger*innen erweitern und stellte die Frage, inwieweit der in Vorarlberg und Wien erprobte ´Bürger*innenrat´ künftig eine Schnittstellenfunktion zwischen direkter und repräsentativer Demokratie ausüben könne: Kann dieser auch Gesetzesvorschläge für die kommunale, Landes-, Bundes- oder EU-Ebene erarbeiten und kann über diese Vorschläge auch abgestimmt werden?
Offene Fragen.
Stoff für weitere Diskussionen lieferten offene Fragen wie: Welche Fälle erfordern (von Beginn an) Partizipation? Wie soll man mit unerwünschten Abstimmungsergebnissen bei geringer Beteiligung oder mit ´Verlierern´, die Ergebnisse nicht akzeptieren, umgehen? Wer entscheidet, worüber abgestimmt werden soll? Vassilakou gab zu bedenken, dass diese Debatte nicht offen geführt werde und Politik, Verwaltung und Bürger*inneninitiativen versuchen würden, von dieser Unsicherheit zu profitieren. Sie betonte, dass sie keinesfalls über Menschenrechte oder über die persönliche Freiheit und existenziellen Rechte von Minderheiten abstimmen möchte. Auch sei zu hinterfragen, ob nicht Betroffene über Angelegenheiten von Betroffenen entscheiden sollen. Vor einer Gefährdung des Minderheitenschutzes durch eine bloße ´Mehrheitsdiktatur´ warnte auch Stainer-Hämmerle.
Die Autorin Gerhild Schutti studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Philosophie. Sie ist Mitglied des Redaktionsteams der Grünen Bildungswerkstatt.