Politik und Kinderbücher: Pädagogikpillen in Gschichterlpapier.

CC-BY-NC-SA GBW Wien / P.R. Horn 2014
Sichtlich erfreut empfing Andreas Novy, Obmann der Grünen Bildungswerkstatt (GBW), am 26.3. ein buntes Publikum in der Wiener Hauptbücherei. Geladen hatten die Büchereien Wien in Kooperation mit der GBW, dem Renner-Institut und der Politischen Akademie zum Thema „Kinderbücher und Politische Bildung“. Die Stuhlreihen waren frühzeitig belegt, die Stehplätze bald rar und selbst der Fußboden strotzte vor Platznot, als Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer Christine Nöstlinger zum Gespräch begrüßte.
Der Papa war die Mama.
Paulus Hochgatterer führt mit Nöstlingers Kindheit und Jugend in das Thema ein. Da diese ins Wien der 1930er und 1940er Jahre fällt, war der Faden zur Politik schon gesponnen. Nöstlinger wurde 1936 in eine antifaschistische Familie geboren. Die Oma habe derb und wenig kaschiert auf Hitler geschimpft. Die Mama, eine Kindergärtnerin, hatte mit einem Disziplinarverfahren sowie der Gestapo zu kämpfen, weil sie sich partout weigerte, den Kindern Hitler-Lieder beizubringen. Im Endergebnis des Scharmützels wurde sie mit 34 Jahren Frühpensionistin der Gemeinde Wien. Der Vater war überhaupt Nöstlingers „Lebensmensch“. Zu weit links für die Sozialdemokratie und arbeitslos bis zum Einzug ins Militär 1939, übernahm er den Haushalt und die Kindererziehung. Also das, was traditionellerweise Mamas taten und „er war eine sehr herrliche Mama.“ Dass ihre Familie chronisch zerstritten war, habe in ihrem Fall nicht geschadet – der Kinderpsychiater horcht auf – weil zwar alle verfeindet waren, „aber jeder hat mich mögen“. Insgesamt gesehen, so die vielfach preisgekrönte Autorin von über 100 Kinderbüchern, sei sie mit politisierenden Menschen aufgewachsen, die das herrschende Regime kritisierten und sich vor allen Dingen kein Blatt vor den Mund nahmen.
Die Schule im Feindesland.
Dass man außer Haus nicht alles sagen durfte, habe Nöstlinger von Kindesbeinen an verstanden. „Ich hab eigentlich von Anfang an gwusst, dass ich im Feindesland lebe.“ Wenngleich der Krieg in Deutschland noch verheerender als in Wien war, lustig sei die Zeit nicht gewesen. „Frieden war für mi a merkwürdiges Wort.“ Auch die Antwort der Mama brachte keine Aufklärung: „Frieden is, wenn's wieder Schinkensemmerln gibt.“ Daran habe sich auch während der Schulzeit nichts verändert. Zunächst sei „schön sprechen“ gefordert gewesen. „Ich konnte aber nicht schön sprechen“, weshalb sie sich auf Mathematik konzentriert habe. Dass es so etwas wie die Sozialdemokratie überhaupt gebe, wurde auf dem „völlig schwarzen, erzkatholischen Gymnasium“ in Hernals peinlich verschwiegen. „Der ganze Unterricht war einfach so, dass ich dagegen war.“ Wieder fühlte sich Nöstlinger im Feindesland.
Da Nöstlinger im Malen und Zeichnen vergleichsweise begabt gewesen sei, versuchte sie ihr Glück auf der Akademie für Angewandte Kunst. Als studierte Grafikerin sei es jedoch nicht leicht gewesen. Also schlug sie einen anderen Weg ein: „I hob mi ins Lebn gstellt. Und bin schwanger wordn. Und war daher eines Berufs enthoben.“ Da ein Hausfrauendasein ihr nicht genügte, habe sie ihr Erstlingswerk, „Die feuerrote Friederike“ (erschienen 1970), auf diversen Papierzetteln zusammengekritzelt, es erfolgreich eingereicht und war von nun an Kinderbuchautorin.
Alles wurde nicht besser.
In der Gesprächsvorbereitung habe Paulus Hochgatterer seinen Keller durchstöbert und gut 20 Nöstlinger-Bücher zu Tage gefördert. So dürfte es vielen Haushalten (nicht nur) in Österreich gehen. Hochgatterer folgert, dass viele Kinder „Nöstlinger-sozialisiert“ seien. Doch wie umgehen mit dieser Verantwortung? „Ich bin mir meiner Verantwortung nicht bewusst“, entgegnet Nöstlinger unbewegt. Verantwortung empfinde sie sich selbst gegenüber, in Bezug auf die Qualität ihrer Bücher. Wenn es doch eine Verantwortung von Kinderbuchliterat*innen gibt, dann liege sie eher im „nicht Politisieren“. „Es is eigentlich ned richtig, dass ma Kinder auffordert, etwas zu tun und damit stehen's dann allein da.“ Trotzdem sei natürlich jedes Buch an sich schon politisch.
Anfangs jedoch, mit der „Feuerroten Friederike“, habe sie diesbezüglich noch mehr „herumgefuhrwerkt“. „Des war ja sozusagn angewandter Kinder-Ernst-Bloch!“ In einem fernen Land sollte darin alles besser werden, „sozusagen die sozialistische Zukunft.“ „I hob des wirklich glaubt. So naiv war ich“, damals, im Jahr 1968. Heute glaubt sie das nicht mehr. Auf Happy Endings und Idylle könne sie übrigens verzichten. Nur, „a bissl an Hoffnungsschimmer“ möchte sie in ihren Geschichten nie missen lassen.
Kinderliteratur und PC.
Wie zu erwarten, blieb auch das Thema ’political correctness’ nicht unangetastet. Nöstlinger blieb bei ihrer kontroversen Meinung (siehe Link): Vereinzelte Wörter ergeben noch keinen Rassismus, sondern erst die Geschichten rundherum. Wer das Wort „Mohr“ aus dem Struwwelpeter streiche, tilge nicht die rassistische Grundaussage des Texts, dass Weiß über Schwarz stehe. Eine erläuternde Fußnote bei problematischen Wörtern sollte deswegen ihrer Meinung nach ausreichen, denn „kein vernünftiger Mensch sagt heute noch Neger.“
Menschen und Verlage, die derartiges von vornherein ablehnen, verstünden Kinderbücher offensichtlich immer noch als schiere Pädagogik und nicht als Literatur. Überhaupt sei das Wort „Kinderliteratur“ nicht sehr alt. In den 1960ern waren Kinderbücher nichts anderes als „Pädagogikpillen, eingwickelt in Gschichterlpapier“. Unziemliches Verhalten der Protagonist*innen sollte umgehend bestraft werden und nicht erst 40 Seiten später. Eine Veränderung und Blüte des Kinderbuch-Genres sah Nöstlinger in den 1970er und 80er Jahren, als der strenge Pädagogikauftrag gelockert und Kinderbücher als eigenständige Literaturgattung anerkannt wurden. Seither habe die Beachtung von Kinderliteratur sukzessive abgenommen und es sei insgesamt wenig Neues entstanden, fasst Österreichs bekannteste Kinderbuchautorin die aktuelle Lage eher resignativ zusammen.
Auf die Bekanntschaft mit Astrid Lindgren angesprochen, erzählt Nöstlinger abschließend, dass die geduldige Schwedin es immer merken ließ, wenn man ihr sympathisch war.
Die zutrauliche Atmosphäre in der Hauptbücherei hingegen ließ merken, dass Christine Nöstlinger nach wie vor bei ihrem Publikum einen großen Stein im Brett hat.
Link.
Beitrag Nöstlingers in DIE ZEIT: Der Neger bleibt ein Neger.
Der Autor, Michael Schwendinger, hat Internationale Entwicklung und Volkswirtschaft studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.