Mit dem Kürzel AC zu einer neuen Verfassung.
Am 17. November wählt Chile ein neues Staatsoberhaupt. Die neun Präsidentschaftskandidat*innen üben ihren Wahlkampf unter der kritischen Beobachtung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Bewegungen aus. Diese setzten sich in den vergangen Jahren verstärkt für die Durchsetzung sozialer und politischer Rechte in dem jungen OECD Mitgliedsland ein. Allen voran die landesweiten Massenproteste von Schüler*innen und Studierenden 2011 und 2012. Diese richteten sich gegen das überwiegend privatisierte und überteuerte Bildungssystem in Chile, welches tausende Familien und Studierende vor immense finanzielle Belastungen stellt und die soziale Ungleichheit im Land widerspiegelt. Die Proteste stießen auch eine erneute Debatte über die Notwendigkeit einer Verfassunggebenden Versammlung in Chile an, da die aktuelle Verfassung ihren Ursprung in der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 hat.
„Die Leute sind es leid nicht angehört zu werden!“.
So der chilenische Journalist José Becerra im Interview. Dieser ist Mitglied im Koordinationsteam der Initiative MarcaTuVoto. Die Bezeichnung steht übersetzt für den Aufruf an die Wähler*innen am Tag der Wahl ihren Stimmzettel mit dem Kürzel AC für Asamblea Constituyente zu markieren und so ein deutliches politisches Zeichen für die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung zu setzen. Die Kampagne startete heuer im Mai. MarcaTuVoto hat es sich zum Ziel gesetzt, dass mindestens zehn Prozent aller Wähler*innen ihren Stimmzettel markieren. Die Initiative hofft, dass mit einem solchen Ergebnis die neue Regierung den Wunsch der Bürger*innen ernst nehmen und eine Volksbefragung über die Möglichkeit einer Verfassunggebenden Versammlung anordnen wird.
Das Problem der derzeitigen Verfassung ist ihr Ursprung in der Diktatur.
In der Initiative MarcaTuVoto versammeln sich Bürger*innen, welche die historischen Wurzeln der aktuellen chilenischen Verfassung anprangern. Diese wurde im Jahr 1980 in der Diktatur unter dem General Augusto Pinochet durchgesetzt. Pinochet gelangte durch einen gewaltsamen Militärputsch im Jahr 1973 an die Macht. Die Verfassung ist seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie im Jahr 1990 zwar mehrfach überarbeitet worden, die Initiative kritisiert jedoch den Umstand, dass die Änderungen ausschließlich von Personen an der Machtspitze der Politik vorgenommen wurden. Becerra betont: „Das Land Chile hatte noch nie die Möglichkeit seine Verfassung auf eine partizipative Art und Weise zu gestalten.“ Laut Becerra bevorzugt die derzeitige Verfassung die rechten politischen Parteien Chiles. Mehrheitsbenachteiligende Verfassungsklauseln, vor allem das binominale chilenische Wahlsystem, sorgen dafür, dass diese politische Minderheit im Parlament überrepräsentiert ist und dadurch tiefgreifende Änderungen an den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Landes bis heute verhindern konnte.
Der „Siebte Stimmzettel“ in Kolumbien als Vorbild.
In Chile wurden bereits mehrere erfolglose Versuche unternommen, um die Wahlzettel zu markieren. Der bisherige Erfolg von MarcaTuVoto liegt Becerra zur Folge in den vielfältigen Kommunikationsstrategien. Die Initiative wirbt intensiv in sozialen Netzwerken, sowie in lokalen Radiosendern und Tagesszeitungen. Die Unterstützung durch Künstler*innen im Fernsehen sorgt für zusätzliche Aufmerksamkeit. Im Vergleich zu anderen Initiativen profitiert MarcaTuVoto von der breit angelegten Ausrichtung: „Uns vereint nicht die Sympathie für einzelne Präsidentschaftskandidaten, was ein großer Vorteil ist“, so Becerra. Auch in anderen Ländern Lateinamerikas nutzten Bürgerinitiativen bereits die Wahlurnen als Mittel zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. Becerra weist auf Parallelen zu dem erfolgreichen Versuch in Kolumbien bei den Präsidentschaftswahlen 1990 hin. Studierendenproteste bewirkten damals, dass am Wahltag über zwei Millionen „siebte Stimmzettel“ in den Urnen landeten, die eine Verfassunggebende Versammlung forderten. Dies bewegte die damalige Regierung dazu, eine Volksbefragung über die Möglichkeit einer solchen Versammlung zu veranlassen. Becerra beschreibt MarcaTuVoto als bottom-up Initiative, die von der Zivilgesellschaft und Studierendenprotesten getragen ist. Die Mitglieder hoffen daher mit dem Kürzel AC ähnliche Erfolge zu erzielen.
Die Zählung der Stimmzettel als größte Herausforderung.
Aufgrund des Drucks, den MarcaTuVoto seit einigen Monaten auf die Wahlkommission ausübt, stellte diese inzwischen öffentlich klar, dass ein Stimmzettel mit der Markierung AC gültig ist und keine Auswirkungen auf die Wählerstimme für die Präsidentschaftskandidat*innen hat. Landesweit sind Vertreter*innen der Initiative an öffentlichen Plätzen aktiv und machen Bürger*innen mit der rechtlichen Lage der Stimmzettelmarkierung vertraut. Becerra hält diesen Schritt in der öffentlichen Kommunikation für bedeutend, um den Erfolg am 17. November zu sichern. Die größte Herausforderung stellt jedoch die fehlende Unterstützung der Wahlkommission bei der Zählung der markierten Stimmzettel dar. Die Initiative steht daher vor der Aufgabe am Wahltag die Wahllokale mit freiwilligen Personen zu besetzen. Diese sollen eine Beobachterrolle einnehmen und die Wahlhelfer*innen darin bestärken die Markierungen zu zählen. Unterstützung erhält MarcaTuVoto auch von einigen Politiker*innen und Abgeordneten, die am 17. November ihre Wahlhelfer*innen für die Zählung zur Verfügung stellen, um so den Weg für eine landesweite Volksabstimmung zu ebnen.
Wie genau die Verfassunggebende Versammlung dann gestaltet und durchgeführt werden soll, ist bisher noch unklar. Eines steht jedoch fest: Diese wird weder auf Expertenentscheidungen basieren, noch im Kongress abgehalten werden. Ein Prozess von unten soll es sein, ohne die Dominanz politischer Eliten.
Die Autorin, Meike Siegner, beendet momentan ihr Studium der Sozioökonomie in Santiago de Chile und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
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