Kulturpolitik?!
Am 1. September 2015 luden Kunst- und Kultur-Initiativen und Aktivist*innen zu einer diskursiven Pressekonferenz in das Werkstätten- und Kulturhaus (WUK). Anlass war unter anderem die Präsentation des 15 Punkte umfassenden Forderungspapiers an die Verantwortlichen für die Wiener Kulturpolitik. Abseits der interessierten Presse – Der Standard, Die Presse, ORF, Ö1, Kurier – waren die angesprochenen Politiker*innen nicht anwesend. Das könne exemplarisch für die beklagte „verweigerte Kommunikation“ seitens der Stadtpolitik verstanden werden. Die Pressekonferenz ist aber dank dem Radiosender ORANGE 94.0 online nachhörbar (siehe Link-Liste).
Zu arm für Pensionszuschuss?
Die Medienkünstlerin Julia Starsky berichtet davon, dass die Mehrheit der Kunstschaffenden meist unter der Armutsgrenze arbeitet und kaum ihre Existenzen absichern kann. Nur eine verschwindende Minderheit könne allein von der künstlerischen Arbeit leben. Deswegen hätten viele einen Zweit- oder Drittberuf, welcher aber häufig in Widerspruch zum künstlerischen Erstberuf stehe. Hinzu käme, dass es eine Untergrenze für Pensionszuschüsse gibt. Dadurch entstehe die abstruse Situation, dass man „zu arm“ für einen solchen Pensionszuschuss sein kann. Julia Starsky fordert im Namen der Kunstschaffenden aber nicht nur eine finanzielle Absicherung, sondern vor allem auch eine Wertschätzung der Kunst innerhalb der Gesellschaft.
Kurt Brazda, unter anderem im Vorstand des Künstlerhauses, versteht die „Kulturpolitik als Vorhut der Sozialpolitik“. So werde ersichtlich, dass die Situation der Künstler und Künstlerinnen nicht nur diese betreffe, sondern die ganze Gesellschaft. Die sogenannten „neuen Selbstständigen“, die „working poor“, seien jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Diese seien in der Kunst und Kulturszene aber schon länger bekannt. Die von Gewerkschaften Repräsentierten hätten sich verändert: Vertreten sollten nicht mehr ausschließlich „normal Angestellte“ werden, sondern vor allem „neue Selbstständige“. Damit gibt er zu bedenken, ob die Unterscheidung zwischen „neuen Selbstständigen“ und „Unselbstständigen“ noch sinnvoll ist.
Event-Kunst?
Ein zentraler Kritikpunkt der Pressekonferenz betraf das Förderprogramm „Shift“. Dieses sei, so Willi Hejda vom Vorstand der IG Kultur Wien, eine Bewegung „in die falsche Richtung“. Laut der Rathauskorrespondenz vom 12. Dezember 2014 sei das Programm durch zusätzliche Mittel von 1,5 Millionen Euro jährlich für drei Jahre gesichert. Gefördert werden dabei aber nicht die Kunstschaffenden, sondern die Projektkosten selber.
Laut Julia Starsky wurden die Fördergelder für Medienkunst auf ein Fünftel reduziert; dann unter großem Trommelwirbel das Programm „Shift“ initiiert. Dort müsse nun die gesamte Kunstszene einreichen, da sie auf die anderen Töpfe keinen Zugriff mehr hätte. Das resultiere darin, dass über 500 Kunstschaffende beziehungsweise Institutionen sich für nur 22 Shift-Förderungen bewerben. „Wir streiten uns um die Bröseln und der Kuchen wird an uns vorbei getragen“, so Julia Starsky. Sie fordert deshalb, den Anteil der lebenden Kunstszene (das heißt: nicht der Museen) von derzeit 2,5 Prozent auf 10 Prozent des Kulturbudgets zu erhöhen.
Lorenz Seidler, Leiter des Projekts Esel, erzählt aus seiner Erfahrung mit fördernden Institutionen. Er beklagt, dass es zwar Subventionen für Projekte gäbe, aber infrastrukturelle Finanzierungen über Projekte querfinanziert werden müssten: Wegen eines defekten Servers hätte er um Förderung eingereicht. Kalkuliert hätten er und sein Team 19.300 Euro. Um eine Chance auf Förderung zu haben, hätten sie aber nur um 10.000 Euro eingereicht. Hier beschneide man sich schon selbst, so Lorenz: „Wie viel können wir uns trauen einzureichen? Wie viel können wir maximal bekommen?“ Also wird die Bezahlung für die Ausführenden gesenkt, was aber nicht angemessen für die Arbeit sei. Von den 10.000 Euro wurden schließlich 1.500 Euro von der Förderinstitution in Aussicht gestellt – unter der Bedingung, das Förderansuchen auf 1.500 Euro zu korrigieren. Nicht nur werde damit die Würde der einreichenden Künstlerinnen und Künstler beschädigt. Der tatsächliche finanzielle Bedarf der Szene werde damit verschleiert. Formal werden damit nämlich 100 Prozent der Einreichungen gefördert.
Links.
Ungeschnittene Aufzeichnung (durch ORANGE 94.0): Cultural Broadcasting Archive
Kampagnen-Seite: http://www.igkulturwien.net/istnoetig/ (#istnoetig bei IG Kultur)
Forderungspapier „Eine andere Kulturpolitik ist nötig!“: Pressemappe
Der Standard: „Geförderte ‚Selbstkastration‘“
Die Presse: „Freie Wiener Kulturszene: ‚Würde oder Geld‘“
Kurier: „Künstleraufstand gegen Mailat“
Aktionen: http://www.igkulturwien.net/projekte/istnoetig/aktionen-veranstaltungen/
Der Autor, Andreas Dittrich, studiert Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaften und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.