Europa braucht einen linken Populismus.
Der Hörsaal III des NIG füllte sich schnell am Dienstagabend und zahlreiche Studierende scheuten sich nicht davor Eingangsbereiche und Treppen zu belagern, um Chantal Mouffe, Professorin für Politische Theorie an der Universität Westminster, sprechen zu hören. „Ich entschuldige mich für die begrenzte Anzahl an Plätzen“, bekundet Birgit Sauer von der Universität Wien. Es sei Ausdruck einer Vermarktlichung der Universität Wien, dass die Nutzung einer größeren Räumlichkeit wegen zu hoher Mietkosten nicht möglich wäre, betont Sauer und verweist auf die erfreuliche Kooperation mit der Grünen Bildungswerkstatt Wien zur Realisierung der Veranstaltung. Im Zuge der Krise des Kapitalismus gewinne das Werk Mouffes wieder stärker an Bedeutung. In ihrem Vortrag werde es um Demokratie und die Frage nach der Bedeutung radikaler Demokratie im Gegensatz zu liberalen und deliberativen Vorstellungen gehen, leitet sie ein und bittet Mouffe an das Redner*innenpult.
Die Gefahren einer Politik der politischen Mitte.
Mouffe beginnt ihren Vortrag mit einer Analyse des gegenwärtigen politischen Systems. Unsere Gesellschaften befänden sich in einem Zustand der Postdemokratie. Dieser sei gekennzeichnet durch die Dominanz neoliberaler Eliten und mächtiger Konzerninteressen über die traditionellen demokratischen Institutionen. Das Resultat sei eine zunehmende Entpolitisierung, konstatiert Mouffe. Den Grund für die gegenwärtige politische Situation sieht sie in der Entwicklung einer Politik der politischen Mitte. Die Konsensorientierung großer Parteien aus dem linken und rechten Spektrum habe zu einer akzeptierenden Haltung gegenüber dem gegenwärtigen Finanzkapitalismus geführt und schließe echte politische Alternativen aus, so Mouffe. Der Versuch einer Konsensfindung in der Mitte gehe zu Lasten des politischen Interesses in der Bevölkerung und habe den Boden für einen rechten Populismus bereitet. Der Erfolg der FPÖ sei daher auch ein Resultat der großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP.
Radikaler Pluralismus als Gegenentwurf.
In der gegenwärtigen Politik fehle es an Reibungspunkten, so Mouffe. Dominant sei das Paradigma eines liberalen und konsensorientierten politischen Regimes. In diesem liege der Fokus auf Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, bei der gleichzeitigen Vernachlässigung wirklicher politischer Debatten und dem Prinzip der Gleichheit. Ein solches Regime bewirke den Identitätsverlust der traditionellen Parteien. Sie fordert, dass „wir und die anderen“ im Selbstverständnis politischer Parteien zurückzugewinnen, um so dem „wir“ neue Geltung zu verschaffen. Echte Demokratie brauche einen radikalen Pluralismus. Nur die agonistische Konfrontation, verstanden als Wettstreit um echte politische Alternativen und Ideen, sei in der Lage die Krise der repräsentativen Demokratie zu überwinden und der Entpolitisierung entgegenzuwirken.
„Reclaim populism“ ? Linker Populismus als progressives Projekt.
Mouffe interpretiert den rechten Populismus in Europa als Reaktion auf das demokratische Defizit und als Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit der Bevölkerung. Da von den Koalitionen der Mitte keine Lösungen zu erwarten seien, brauche es einen linken Populismus als progressives Projekt, um den Aufschwung der rechten Parteien zu dämmen. Mouffe nennt die griechische Syriza und die spanische Partei Podemos als positive Beispiele für eine solche Entwicklung. Angesichts bisheriger Erfolge sei es jedoch deren größte Herausforderung, nicht die Überwindung repräsentativer Institutionen zum Ziel zu erklären. Dies würde die Bildung von Alternativen zum neoliberalen System zusätzlich erschweren, warnt sie und grenzt sich von der repräsentationskritischen Position der Theoretiker Michael Hardt und Antonio Negri ab. Es sei wünschenswert, dass jene Kräfte in den sozialen Bewegungen rund um Syriza und Podemos dominieren, die sich nicht aus der Politik zurückziehen, sondern vielmehr Teil eines politischen Willens sein wollen. Daher unterscheide sich ihre Analyse von Syriza und Podemos von jener Hardts und Negris. Repräsentation sei ein notwendiger und fester Bestandteil der Demokratie und der geplante Exodus aus der Demokratie keine Lösung. Stattdessen brauche es Synergien zwischen demokratischen Institutionen und den sozialen Bewegungen. Dies sei essentiell, um die agonistische Konfrontation, im Sinne eines radikalen Pluralismus, zu institutionalisieren und die Vergabe einer Stimme an die Bevölkerung zu ermöglichen, schlussfolgert Mouffe. In der anschließenden Diskussion kommt im Publikum eine Mischung aus Zustimmung und Erstaunen über das starke Plädoyer der Vortragenden für einen linken Populismus zum Ausdruck. Mouffe erklärt ihre radikale Haltung damit, dass Populismus in der Lage sei Leidenschaft zu mobilisieren und eine kollektive Identität zu schaffen. Dies gelte es angesichts des Rechtsdrucks in Europa positiv zu kanalisieren und für ein progressives demokratisches Projekt der Linken zu nutzen.
Die Autorin Meike Siegner hat Sozioökonomie an der WU studiert und ist Mitglied im Redaktionsteam der Grünen Bildungswerkstatt Wien.