Die Zukunft (ver-)bauen. Ein Gespräch über unser Bildungssystem.
GBW
Just zeitgleich zu den Debatten um die Zentralmatura luden die Grünen Senior*innen (IGS) und die Grüne Bildungswerkstatt Wien (GBW) am 8. Mai zur Diskussion über das österreichische Bildungssystem in die Esterhazygasse ein. Neben den beiden Diskutierenden durfte GBW-Obmann Oswald Kuppelwieser eine bunte Schar ehemaliger und aktiver Lehrer*innen begrüßen, die zusammen mit weiteren Interessierten die versammelte Expertise des Podiums noch erweiterten und für eine angeregte Diskussion sorgten.
Teure Vernachlässigung.
Allein zwei von Walser zitierte Datenpaare spiegeln den Kern der bildungspolitischen Misere wider: Österreich hat eines der teuersten Bildungssysteme aller OECD-Länder und schneidet trotzdem bei internationalen Tests (u.a. der PISA-Studie) vergleichsweise zumeist sehr schlecht ab. Außerdem schaffe es Österreich, eine der niedrigsten Lehrverpflichtungen in Stunden gemessen mit einer der höchsten Burnout-Raten beim Lehrpersonal in Einklang zu bringen.
Dies hat natürlich seine Gründe. Für den Grünen Bildungssprecher ist insbesondere die Vernachlässigung des vorschulischen Bereichs eklatant. Nachdem Malta sich inzwischen eines Besseren besinnt habe, sei Österreich heute das einzige EU-Land, das für Kindergartenpädagog*innen ausschließlich eine Ausbildung auf Sekundarniveau vorsehe. Zudem sei dieses System sehr teuer, da durchschnittlich nur ein Drittel der BAKIP-Absolvent*innen auch in Kindergärten unterrichten wollen. Die Mehrheit würde lieber Jobs mit besseren Gehaltsaussichten suchen oder studieren gehen.
Weltmeister in systematischer Chancen-Trennung.
Auch in einer anderen Statistik ist Österreich unerreicht. Kein anderes Land der Welt trenne Schulkinder früher als wir und zwar mit 9,5 Jahren. Nur Deutschland komme mit 10 Jahren auf einen ähnlichen niedrigen Wert, der Durchschnitt liege bei etwa 14. „Wir leisten uns bei den 10- bis 14-Jährigen drei Schultypen: die AHS-Unterstufe, die Neue Mittelschule beziehungsweise Hauptschule und die Sonderschule“, verdeutlicht Walser. Drei Schultypen bedeute auch drei Verwaltungssysteme, was für hohe Kosten sorge. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig verwunderlich, dass manche Grüne Reformvorschläge auch bei Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung Anklang finden.
Neben dem finanziellen Mehraufwand hat diese frühe Trennung natürlich auch eine pädagogische und soziale Dimension. Während fast alle Gymnasiast*innen Matura machen, tun dies nur etwa ein Drittel der Hauptschul-Absolvent*innen. Ob die Aufnahme an einem Gymnasium gelingt, darüber entscheide oft der Zweier im Volksschulzeugnis. Bei gleichen Zeugnissen müsse dann oft relativ willkürlich gewichtet werden. „Auf Grund solch absurder Noten, von denen wir wissen, dass sie nichts oder wenig aussagen, treffen wir heute Lebenslaufbahn-Entscheidungen“, spricht AHS-Direktor Walser aus Erfahrung.
Grüne Schule.
Für Walser und das „Grüne Modell“ ist die Ermöglichung angstfreien Lernens zentral. Angst sei nachweislich eine der größten Lernblockaden. Deswegen sollen Ziffern-Noten bis zum 14. Lebensjahr ausbleiben. Auch Angestellte und Top-Manager*innen würden nicht benotet, sondern erhielten eine inhaltliche Rückmeldung über ihre Arbeit. Und auch Kinder würden durchaus verstehen, wenn sie etwas nicht gut machen. Außerdem sollten Kinder mindestens bis 14 in einer gemeinsamen Schule unterrichtet werden. Sowohl inhaltlich als auch im Umgang miteinander gelte nämlich: „Kinder lernen von Kindern.“ Ab dem 14. Lebensjahr stellt sich Walser dann eine beginnende Modularisierung der Schulgegenstände vor, die eine inhaltliche Differenzierung ermöglichen würde.
KMS, NMS, HS, AHS & Co.
Gaby Bogdan ist seit 35 Jahren Pflichtschullehrerin in Wien Favoriten und als Gewerkschafterin bei der Österreichischen LehrerInnen Initiative – Unabhängige GewerkschafterInnen (ÖLI-UG) aktiv. Ihre Schule in der Herzgasse mit circa 30 verschiedenen Muttersprachen wäre nach deutscher Sprachregelung wohl eine „Brennpunktschule“, meint sie. Nachdem Bogdan die Unterschiede zwischen Kooperativer-, Wiener- und Neuer Mittelschule zu erklären versucht hat, kommt sie zu dem eigentlich alles erklärenden Schluss: „Eigentlich ist im Vergleich zur Hauptschule nichts anders.“ Da passt es auch gut, dass auf ihrem Namensschild fälschlicherweise „KMS-“ statt „NMS-Lehrerin“ steht. Ausgangsidee aller Ansätze wäre es gewesen, die Hauptschulen näher mit den Gymnasien zusammen zu bringen. Dieser Versuch sei gescheitert, auch wenn es mit dem Modell der Wiener Mittelschule gut angefangen habe: Innovationen, Lerndesigner*innen und Genderbeauftragte. Nach zwei Jahren sei der Elan verpufft und heute die Lage schlechter als früher.
In den 1990ern seien 54 Lehrer*innenstunden pro Klasse und Woche zur Verfügung gestanden. Heute sind es, trotz der zusätzlichen sechs Stunden an NMS für eine Doppelbesetzung in den Hauptgegenständen, nur mehr 45,5 Stunden. Ein klarer Rückschritt, findet Bogdan.
Fakt sei außerdem, dass Pflichtschullehrer*innen heute großteils Erziehungsarbeit leisten, die bis zum Naseputzen und Schuhebinden reiche. Nur wird diese soziale Arbeit weder gedankt noch vergütet. Der Appell von Bogdan geht deshalb in Richtung Diversität: unterschiedliche Schulen in unterschiedlichen Regionen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Dies müsse berücksichtigt werden. Und: „Solange an den großen Stellschrauben nicht gedreht wird, wird sich auch nichts verändern.“
Reform für ein Schulsystem des 19. Jahrhunderts.
In der anschließenden Diskussion bringen die vielen aktiven und ehemaligen Lehrer*innen ihre Expertise ein. Über verkrustete Frauenbilder wird geredet, ideologische Bremsen, den Unterschied zwischen Inklusion und Integration, den Widerstand der AHS-Lehrer*innen gegen die Gesamtschule und die Absurditäten von Dienstpostenplänen, die dazu führen, dass bei einer Grippewelle Lehrer*innenmangel herrschen kann. „Wir haben ein Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert“, resümiert Walser mit Zustimmung aus dem Publikum.
Am Geld könne es jedoch kaum liegen, meint er zynisch. Die potentiellen Kosten der Hypo-Rettung entsprächen nämlich Daumen mal Pi 10.000 Lehrer*innen für 38 Jahre. Also eher eine Frage der Prioritäten. Gegen den Vorwurf, dass die Politik über keine Konzepte verfüge, wehrt sich Walser mit Verweis auf das „Grüne Modell“ vehement. Und dass sogar ein herzensroter Hannes Androsch sich diesbezüglich hinter Walser stellte, spreche für sich.
„Es wird ächzen, krachen, stöhnen und vieles wird nicht funktionieren – aber wir müssen das jetzt angehen!“ Auch wenn eine wirkliche Reform mindestens zehn Jahre dauern werde, dass sie dringend notwendig ist, darüber herrscht Einstimmigkeit.
Der Autor, Michael Schwendinger, hat Internationale Entwicklung und Volkswirtschaft studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.