„Der Maßstab der Freiheit ist die Freiheit der Minderheiten“.
GBW
Spannungsfelder und Perspektiven der EU diskutierten in der zweiten Veranstaltung der Reihe „Europa auf der Couch“ Edo Popovic, Journalist und Schriftsteller aus Zagreb, Romana Schweiger, Künstlerin aus Wien und Kroatisch Geresdorf/Gerištof sowie Lojze Wieser, Autor und Verleger (Wieser Verlag) aus Klagenfurt/Celovec.
Verbrechen + Perversion + Spektakel = Geld.
Edo Popovic eröffnet die Veranstaltung im Burgenländisch-kroatischen Zentrum mit einer Lesung aus seinem Buch „Der Aufstand der Ungenießbaren“. Er zeichnet darin ein erschreckendes Bild unserer Gesellschaft und des Umgangs mit Verbrechen: Für Kolonisatoren, Politiker und Militärs, die Massenmorde organisiert haben, werden Denkmäler errichtet und Straßen benannt. Die Menge ist verrückt nach den Orten des Verbrechens, das Spektakel um sie ein Geschäft, konstatiert Popovi?. Auch in Ex-Jugoslawien werden die Verbrecher „von den Mottenkugeln befreit“. Die Formel sei dabei: „Verbrechen und Perversion und Spektakel ist gleich Geld.“
Sein pessimistisches Gesellschaftsbild sieht Popovic in Kroatien bestätigt. Die wichtigen Themen würden nicht öffentlich diskutiert, dabei seien die sozialen Probleme unübersehbar: 35 Prozent der Bevölkerung seien arm, es gebe bei einer Bevölkerung von viereinhalb Millionen eine halbe Million Arbeitslose. Als Künstler will er Jugendlichen vermitteln, über Grenzen hinwegzuschauen. Viel Hoffnung in Parteien und die etablierte Politik setzt er nicht: „Sie vertreten nicht das, was sie sollen.“ Er zieht deshalb die direkte Kommunikation mit der Bevölkerung vor und setzt sich in die Straßenbahn, wenn er etwas Schönes erleben will. „Denn die Leute sind viel besser als die Politiker, die sie vertreten“, fasst Popovi? seine Erfahrungen zusammen und hat dadurch trotz allem Hoffnung auf positive Veränderungen. Jedoch habe Kroatien das Negativste aus dem Sozialismus und Kapitalismus aufgenommen und bei der EU sei unklar, für was sie stehe, stellt Popovi? die Problematik der aktuellen politischen Lage dar.
EU als elitäre Supermacht oder Vision für das Zusammenleben der Menschen?
Lojze Wieser teilt die Einschätzung über die unklare Perspektive der EU. Gestartet sei die EU als Friedensunion. Seit 1990/1991 macht Wieser jedoch einen Wandel aus, der sie immer mehr zu einer lobbyistischen Organisation mit eigener Machtstruktur werden lässt. „Sie kann sich nicht entscheiden: Will sie eine Supermacht der wirtschaftlich elitären Option sein, oder will sie eine Option entwickeln, die Visionen für ein zukünftiges Zusammenleben der Menschen ausarbeitet?“
Das Problem sieht Wieser darin, dass die EU in der historischen Umbruchsituation mit dem Fall des Eisernen Vorhangs notwendige Schritte nicht gesetzt hat. „Die EU hat verabsäumt, Signale zu verstehen, die ihr geboten worden sind.“ Er spielt damit auf die kulturelle Vielfalt und differenzierte kulturelle Entwicklung in Europa an: Allein in Jugoslawien hätten 22 Kulturen und Religionen existiert. „ Eine Geschichte, ohne die Europa – wenn es sich dessen auch nicht bewusst ist – nicht existieren könnte“, erklärt Wieser.
In Europa würden insgesamt 200 autochthone und 200 zugewanderte Sprachen gesprochen; dieser Fakt bringe das Denken über Mehrheiten und Minderheiten in Bewegung, so Wieser. „Wir haben 25 Jahre verabsäumt, darüber nachzudenken, wie es möglich wäre, dass Kulturen und Menschen miteinander leben können - ohne eigenen Nationalstaat“, erläutert Wieser.
Denn dies hätte seiner Einschätzung nach die Vision der EU sein können: Gleichberechtigtes Zusammenleben der Kulturen ermöglichen, ohne Zwang, die eigene Sprache aufzugeben und der eigenen Kultur zu entsagen. Für Wieser ist dieses Versäumnis der Grund, warum auf aktuelle Fragen, etwa die Krim-Krise oder Unabhängigkeitsbestrebungen von europäischen Regionen, keine befriedigenden Antworten gefunden werden.
„Wir haben noch nicht gelernt, wie wir mit dem kulturellen Ausdruck der Verschiedenheit umzugehen haben“, schlussfolgert er. Die Gleichberechtigung der Kultur und Sprache sei jedoch die einzige Möglichkeit, in deren Rahmen eine neue Vision des Zusammenlebens formuliert werden könne. Deshalb fordert er auf, selbstbewusst zur eigenen Kultur und Sprache zu stehen und soziale Probleme zu benennen - eine wichtige Strategie gegen sich verstärkende rechtsextreme Stimmungen.
Den kulturellen Ausdruck der Verschiedenheit reizvoll machen.
Anschließend entfaltet sich eine lebhafte Diskussion, wie die Forderung attraktiv gemacht werden kann: Wie kann Integration neu gedacht werden, welche neuen Begriffe müssen wir dafür lernen und entwickeln? Warum wird Kultur und Sprache von Minderheiten häufig aufgegeben?
Deutlich wird, dass Sprachenfragen Gesellschaftsfragen sind. Wieser verweist auf eine lange Geschichte der Ignoranz gegenüber dem Slawischen, die auch politisch gefördert wurde. Ein Diskutant aus dem Publikum nennt eine ökonomische Begründung für die Schwächung der Minderheitensprache: „Je stärker Lebensbereiche durchökonomisiert werden, umso stärker kommen die Minderheitensprachen unter die Räder.“ Denn es fehle die Zeit, Kindern eine Sprache beizubringen, die sie außerhalb der Familie kaum sprechen und die sie auf dem Arbeitsmarkt nicht einsetzen können. Durch steigende Arbeitsmigration zerfaserten außerdem die Gebiete, in denen früher mehrheitlich eine Minderheitensprache gesprochen wurde.
Die Diskussion macht deutlich, dass es nicht nur Minderheiten beschäftigt und beschäftigen sollte, verschiedene Sprachen und Kulturen zu erhalten und zusammen eine kommunikative Ebene zu schaffen. Es ist eine gesellschaftspolitische Frage, deren Antwort entscheidet, in welchem Europa wir leben. Ob ein gleichberechtigtes Miteinander ohne Assimilationsdruck geschaffen wird, entscheidet auch darüber, wie frei die Menschen in der EU sein werden und wer tatsächlich „na brodu - an Bord“ ist.
So schlussfolgert Popovic zum Abschluss der Veranstaltung: „Der Maßstab der Freiheit ist die Freiheit der Minderheiten.“
Der Autor Raphael Kiczka ist Sozial- und Politikwissenschaftler und Mitglied der GBW Wien-Redaktion.